2024

Dr. Jonathan Landgrebe - Laudatio auf Didier Eribon

Es ist jetzt etwas mehr als acht Jahre her. Am 23. Juni 2016 verabschiedeten sich die Briten per Votum aus der Europäischen Union. Am 8. November 2016 wurde Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Und im Anschluss an diese Ereignisse war man in jenem Herbst 2016 damit beschäftigt, verstehen zu wollen, wie es dazu kommen konnte. Das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien in Europa und der unaufhaltsame Aufstieg der AfD in Deutschland waren der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Großen und Ganzen unerklärlich. Noch weniger konnte man begreifen, wieso die Briten die EU verlassen wollten und die Amerikaner Donald Trump zu ihrem Präsidenten gewählt hatten. Eine Flut an Berichterstattung und Büchern folgte, die mit Donald Trump abrechneten, und die Empörung über diesen vermeintlichen Betriebsunfall der Geschichte war jeden Tag mit Händen zu greifen.

Nur wenige Monate zuvor, im Mai 2016, erschien Didier Eribons Buch Rückkehr nach Reims in deutscher Übersetzung im Suhrkamp Verlag. Das Buch war in Frankreich bei Fayard bereits im Jahr 2009 veröffentlicht worden. Schnell erkannten auch die deutschen Leserinnen und Leser, dass dieses Buch neue, andere Erklärungen der Ereignisse bot. Im Spiegel der Geschichte, die Didier Eribon in Rückkehr nach Reims erzählt, ließ sich der Rechtsruck in Frankreich nachvollziehen und auf die deutsche Gesellschaft übertragen. Didier Eribon wurde so zum Aufklärer über die hier herrschenden politischen Verhältnisse, auch wenn dies von ihm gar nicht intendiert gewesen war. Die Ereignisse hatten sein viele Jahre zuvor verfasstes Werk gewissermaßen fortgeschrieben und seine Analysen bestätigt. „Er sagte das Beben voraus“ – konnte deshalb später Die Zeit über Didier Eribon schreiben.

So kam es, dass nach der Wahl Donald Trumps im November 2016 die ohnehin schon erfreulichen Verkaufszahlen seines im Mai erschienenen Buches sprunghaft anstiegen.

Worum aber geht es in diesem Buch?

In Rückkehr nach Reims kehrt Didier Eribon, er ist zu diesem Zeitpunkt deutlich über 50 Jahre alt und ein in Paris lebender schwuler Intellektueller, nach dem Tod seines Vaters zurück in die Stadt seiner Kindheit, in eine Welt, die er einst hinter sich gelassen und seither gemieden hatte. Anhand von Familienfotos, die er mit seiner Mutter ansieht, beginnt eine Erinnerungsreise in seine Vergangenheit und die seiner Familie. Mit großer Offenheit erzählt er, wie ihn das Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie, die sich psychisch und materiell stets am Limit befand, geprägt hat und wie sich dort kein Platz fand für jemanden wie ihn – einen jungen, begabten Homosexuellen. Er erkennt, dass er ausbrechen muss aus diesen prekären Verhältnissen und den daraus folgenden Lebensentwürfen, dass er sich einen Raum schaffen muss, in dem seine Homosexualität lebbar wird. Denn Homophobie und Alltagsrassismus prägten das Milieu, aus dem er stammt.

In einer präzise analytischen und gleichzeitig poetischen Sprache reflektiert Eribon über die Macht sozialer Strukturen, darüber, wie sie Herkunft, Bildung und Sexualität, wie sie unser Leben formen und begrenzen. Die Scham, nicht dazuzugehören, verbindet sich mit der Wut auf die herrschenden Ungerechtigkeiten dieser Welt. Erst als er Teil der homosexuellen Community in Paris wird, entstehen Bekanntschaften, Freundschaften und neue berufliche Möglichkeiten. Der weite Weg in die intellektuelle Elite Frankreichs – er wird Journalist, ist Autor von mehr als 15 Büchern in den Bereichen Philosophie, Soziologie und Ideengeschichte, forscht und wird Professor an der Universität von Amiens - bringt ihm Anerkennung, aber auch das Gefühl, ein Verräter zu sein – an seiner Familie und an den Menschen, die er hinter sich gelassen hat beim Versuch, sein soziales Erbe auszuschlagen.

Das Buch ist dabei kein einfaches Memoire, sondern Autobiographie und politischer Essay zugleich. Didier Eribon argumentiert, dass die politische Linke nach und nach darin versagt habe, die Arbeiterklasse zu repräsentieren, mit ihren Kämpfen, Traditionen, ihrer Kultur und ihren Hoffnungen und Wünschen. Die durch kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen ohnehin geschwächte Solidargemeinschaft der Arbeiter musste erleben, wie sich die Linke vom Marxismus, von Fragen der sozialen Ungleichheit und der Klassenfrage abwandte und zunehmend eine neoliberale, eher der Mittelschicht zugewandte Wirtschaftspolitik verfolgte. Didier Eribon will es nicht einleuchten, weshalb die Kämpfe der Linken für Minderheitenrechte, z.B. im Bereich von Race, Gender und Sexualität, nicht zugleich mit Fragen der Klassenzugehörigkeit ausgefochten werden konnten und die Linke das eine, also den Klassenkampf, durch das andere, die Kämpfe für neue Minderheitenrechte, ersetzte. „Aber warum“, so fragt Didier Eribon, „sollten wir zwischen verschiedenen Kämpfen gegen verschiedene Formen der Unterdrückung wählen müssen?“ Es verwundert ihn unter diesen Umständen nicht, dass die Arbeiterschicht nicht mehr links, sondern rechts wählte.

Hätte Pierre Bourdieu, mit dem Didier Eribon seit mehr als 20 Jahre eng befreundet war, mit seiner berühmten, 1979 erschienenen Studie Die feinen Unterschiede den Denkrahmen nicht bereitgestellt, so wäre der doppelte Ansatz des Buches und sein Erkenntnisgewinn, welcher sich in Selbstanalyse und Gesellschaftsanalyse zugleich entwickelt, nicht möglich gewesen. Über vieles, was er im eigenen Buch aufgeschrieben hat, hatte er zuvor mit Pierre Bourdieu gesprochen, sie hatten sich zwischen 1979 und 2002 fast jeden Tag gesehen. Und so machte es sich Didier Eribon zur Aufgabe, in seinem Buch mit Erzählungen zu unterlegen und in der Reflexion fortzusetzen, was Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede als soziologische Analyse dargelegt hatte.

Diese Freundschaft und die darin aufgehobene Vorgeschichte seines Buches sind nur ein erster Hinweis darauf, dass Didier Eribons intellektueller Weg viel früher beginnt, als man es in Deutschland für gewöhnlich wahrnimmt. Bereits im Jahr 1991 erschien im Suhrkamp Verlag in deutscher Übertragung Didier Eribons erstes Buch, eine wunderschön geschriebene Biographie Michel Foucaults, hervorgegangen aus unzähligen Gesprächen und einer intensiven Arbeit in den Archiven. Michel Foucault selbst aber war nie geneigt gewesen, autobiographische Bekenntnisse zum Teil seines Werkes zu machen. Und so war das Erscheinen dieses Buches begleitet von der Frage, weshalb Didier Eribon die Biographie eines Autors verfasste, der doch selbst als Person nicht in Erscheinung hatte treten wollen, sondern gesagt hatte: „Man frage mich nicht, wer ich bin.“ – ungeachtet der Tatsache im Übrigen, dass die Subjektivität seiner Forschungsansätze von ihm verteidigt wurde. Didier Eribon erläutert in der Biographie zugleich die französische Geistesgeschichte und die Geschichte der Intellektuellen in den Jahrzehnten zuvor. Das existentialistische und kommunistische Engagement der Nachkriegszeit, die Studentenbewegung von 1968 und das, was daraus folgte bis in die frühen 80er Jahre.

Seine Biographie verbindet also Werk und Autor und arbeitet den Zusammenhang von persönlicher Erfahrung und Reflexion im Werk Michel Foucaults heraus. Die Lebensgeschichte zur Grundlage zu machen und den Blick auf das Individuum zu richten, wie es Didier Eribon später eben auch in der Rückkehr nach Reims tun sollte, war also in gewisser Weise eine Methode, die Didier Eribon schon für seine Biographie über Michel Foucault mit anderer Intention nutzte.
Mitte der 90er Jahre begann Didier Eribon mit der Niederschrift seines 1999 erschienenen Buches Betrachtungen zur Schwulenfrage, das zu einem Standardwerk wurde und Soziologie, Literatur und Philosophie miteinander verknüpft. „Am Anfang war die Beleidigung“, so beginnt das Buch. Die Wucht der verbalen Aggression gegenüber dem Schwulen wird zum Ausgangspunkt der Betrachtung, in der er zeigt, wie Beleidigungen ganze Gesellschaftsordnungen repräsentieren und wie diese individuell erlebt werden. In jenen 90er Jahren und während der Niederschrift seines Buches fühlte sich Didier Eribon als Teil einer globalen Bewegung, eines großen gesellschaftlichen Aufbegehrens: Was bedeutet es, homosexuell zu sein? In welcher Form werden Schwule den sexuellen Normen unterworfen? Wie greifen soziale Verdikte in die Konstitution von Existenzen ein? Die existentiellen Fragen wurden bei Eribon und in der Bewegung der er sich zugehörig fühlte, neu aufgeworfen.

Didier Eribon ist – an dieser Stelle muss ein kurzer Exkurs sein - ein ganz großer, leidenschaftlicher Leser von Literatur. Und das wäre in den heutigen Zeiten einen eigenen Preis und eine eigene Laudatio wert. In allen seinen Büchern ist es eine große Freude, ihn bei der Lektüre von Literatur zu begleiten, mit ihm und durch ihn Literatur entdecken und zum Lesen angeregt zu werden. In jeder Zeile ist spürbar, wie nah er den Büchern ist, über die er spricht. Wenn ich mich als Verleger manchmal frage, für wen wir arbeiten, dann würde ich sagen, dass die Lektüreerfahrungen, die Eribon uns vermittelt, meinen Träumen davon, was Literatur bedeuten und bewirken kann sehr, sehr nahekommt.

Auch die Betrachtungen zur Schwulenfrage untersuchen in einem historischen Teil, wie gleichgeschlechtliche Liebe ab dem 19. Jahrhundert zur Darstellung fand und in der Literatur und damit artikulierbar wurde,– von den Oxforder Hellenisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts über Oscar Wilde und Marcel Proust bis zu André Gide im 20. Jahrhundert, bis das Buch schließlich in eine Neuinterpretation von Michel Foucaults philosophischem Denken über Sexualität, Macht und Widerstand mündet.

Das in den Betrachtungen zur Schwulenfrage so präsente Phänomen der Beleidigung führt uns schließlich auch wieder zurück nach Deutschland. Heute lernen wir aus Didier Eribons Büchern über Frankreich etwas über unser eigenes Land. Vor über 50 Jahren aber war es ausgerechnet ein deutscher Film, der ihm die Augen öffnete: In „Jagdszenen aus Niederbayern“ werden die Konsequenzen von Beleidigung und Ausgrenzung eines Homosexuellen auf eindringliche Art und Weise veranschaulicht.

Dieser Film – von Michael Haneke einmal als einer seiner Lieblingsfilme bezeichnet, und das bestimmt nicht nur deshalb, weil in ihm Angela Winkler und Hanna Schygulla zum ersten Mal auf der Leinwand zu sehen waren - erzählt die Geschichte eines Dorfes und seiner bigotten Bewohner, die sich zu einer Hetzjagd auf einen jungen schwulen Mechaniker hinreißen lassen. Wenn heute davon gesprochen werde, dass man zurückkehren müsse zu intakten Gemeinschaften und alten Werten, dann sei dieser Film das Erste, woran er denke, so Didier Eribon.

Die Académie, die heute diesen Preis verleiht, verbindet Deutschland und Frankreich und soll zu intellektuellem Austausch zwischen der deutschen und der französischen Kultur anregen, sie soll ein Ort des Nachdenkens sein und sich mit der Rolle Frankreichs und Deutschlands in Europa auseinandersetzen.

Dass die Kultur allerdings, in deren Namen wir auch hier heute Abend zusammenkommen, nicht nur Licht, sondern auch Schatten wirft, formulierst Du, lieber Didier, in Deinem erstmals 2013 und in Deutschland 2017 erschienenen Buch Gesellschaft als Urteil. Es gehört zur Schonungslosigkeit Deiner Analysen, dass sich ihnen auch die „Kultur“, die sogenannte „Hochkultur“ gar, zu stellen hat. Du schreibst:
_Das Licht, das die Kultur für alle darstellt, die einen Zugang zu ihr und in ihr die Mittel zu einer Emanzipation finden, hat allerdings eine dunkle Kehrseite: die Gewalt einer Trennung, durch die so viele Menschen von dem ausgeschlossen werden, was die Gesellschaft (…) als die edelsten Errungenschaften bezeichnet, als das Erstrebenswerte schlechthin. _

Abschnitte des Buches schildern, wie sich die Klassengesellschaft über das Schulwesen, aber eben auch über die Hochkultur selbst reproduziert und so einen wesentlichen Beitrag zur Legitimation und Verstetigung sozialer Ungleichheit leistet.

Wir können uns also keinen besseren Träger des Preises der Académie vorstellen. Deine Bücher erzählen aus Frankreich, aber sie haben eine immense Wirkung in Deutschland. Dies gilt auch für das in diesem Jahr erschienene, sehr bewegende Buch über Deine Mutter mit dem Titel Eine Arbeiterin - Leben, Alter und Sterben, welches sich vor allem auch damit beschäftigt, wie unfähig unsere Gesellschaft ist, mit Altern und Sterben auf menschliche Art umzugehen.

Manchmal brauchen Gesellschaften den Blick von außen, um sich selbst zu verstehen. So geschickt wie Du, und dabei völlig ungeplant, haben es wohl wenige angestellt, um in Deutschland intellektuell zu intervenieren und uns ins Nachdenken zu bringen – über Scham und soziale Ungleichheit, über rechts und links, über die Macht der Ausgrenzung, über Homosexualität und ihre Stigmatisierung, über Kultur, über Frankreich, über Deutschland, über Europa.

Lieber Didier, bevor ich nun das Wort weitergebe, gratuliere ich Dir sehr herzlich zum Preis der Académie de Berlin. Ich freue mich sehr, dass Du heute hier bist, zusammen angereist mit Deinem Lebensgefährten Geoffroy de Lagasnerie.
Deine Leidenschaft, Deine Offenheit, Deine analytischen Fähigkeiten und Deine Menschlichkeit halten uns allen, denen uns jeden Tag der Atem stockt angesichts der aktuellen bedrohlichen Entwicklungen, die Zukunft und ihre Gestaltbarkeit offen.

Es ist uns eine Ehre, dass Du Autor des Suhrkamp Verlags bist und das schon seit über 30 Jahren, auch wenn die Zeitrechnung 2016 mit Rückkehr nach Reims quasi noch einmal neu begonnen hat. Die Zusammenarbeit mit Dir und jedes Deiner Bücher machen uns allen im Verlag große Freude, wir schätzen Deine Zugewandtheit, Dein Engagement und Deine Präsenz.

Deine Bücher erscheinen in Frankreich inzwischen bei Flammarion, deren Verlegerin Sophie de Closets heute Abend ebenfalls hier ist. Jede Übersetzung eines Deiner Bücher – und die Übersetzungen selbst haben wir über die vergangenen 30 Jahre Tobias Haberkorn, Sonja Finck, Achim Russer, Bernd Schwibs und Hans Horst-Henschen zu verdanken - vertiefen das gegenseitige Verständnis und bedeuten eine Bestärkung von Vertrauen und Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Und das erst recht, wenn sich jemand wie Thomas Ostermeier eines Werk für das Theater annimmt, wie in Deinem Fall geschehen.

Was Du geworden bist, gründete in der Hoffnung auf ein anderes Leben bei schwieriger Ausgangslage. Du hast sie überwunden. Am Ende von Rückkehr nach Reims zitierst Du Jean-Paul Sartre mit dem Satz:
„Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.“

Was Du aus Dir gemacht hast, lässt sich ebenfalls in Rückkehr nach Reims nachlesen. Ich paraphrasiere die letzten Zeilen:
„Heute ist er Professor. Als er seiner Mutter erklärte, dass man ihm eine Stelle angeboten hatte, fragte sie ganz gerührt: „Und was für ein Professor wirst Du, Philosophie?“ „Eher Soziologie.“ „Soziologie?“ erwiderte sie, „hat das was mit Gesellschaft zu tun?“

Noch einmal, herzlichen Glückwunsch!