Die Welt am 29.01.2015
29.01.2015

von Académie-Mitglied Wolf Lepenies

Der Islam bedroht den europäischen Laizismus

Während sich Frankreichs Rechte mit der deutschen Pegida verbrüdern, erinnern im Mutterland der Säkularisierung besorgte Aktivisten an die wahren Werte des Abendlandes. Im “Café de la Laicité”.

Weil er angeblich christliche Symbole verspottet hatte, wurde der Angeklagte zum Abschneiden der Zunge, zum Abschlagen der rechten Hand, zur Enthauptung und anschließenden Verbrennung seines Körpers verurteilt. Es geschah zur hohen Zeit der Aufklärung, gerade waren die Bände 8 bis 17 der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert erschienen. Der Chevalier de la Barre, der am 1. Juli 1766 gefoltert und hingerichtet wurde, war der letzte Franzose, den ein Gericht wegen Blasphemie zum Tode verurteilte. Ein Jahr zuvor war in der nordfranzösischen Stadt Abbeville ein hölzernes Kruzifix auf der Brücke über die Somme beschädigt worden.

Der Verdacht fiel auf eine Gruppe junger Leute, die beim Vorbeizug der Fronleichnamsprozession demonstrativ ihre Hüte aufbehalten hatten. Zu ihnen gehörte der neunzehnjährige de la Barre. Eine Hausdurchsuchung bei ihm förderte pornografische Schriften und Voltaires “Philosophisches Wörterbuch” zutage. Zeugen meldeten sich, die berichteten, die Jugendlichen hätten mehrfach ihren Spott mit christlichen Symbolen und Riten getrieben. Der König lehnte eine Begnadigung des Chevaliers ab; Voltaire nannte Prozess und Hinrichtung “eine ewige Schande für Frankreich”. Auch im Ausland nahm man Anteil am Schicksal de la Barres. Im Anfangskapitel seines Romans “A Tale of Two Cities” erinnert Charles Dickens an ihn. Der Chevalier wurde zum Symbol des Kampfes für die Laizität – und ist es bis heute geblieben.

Christentum hat Laizität erst möglich gemacht

Als 1905 die Dritte Republik die Trennung von Staat und Kirche zum Gesetz erhob, wurde in Paris eine Statue zur Erinnerung an den Chevalier de la Barre errichtet – genau vor dem Eingang zur Kirche Sacre Cœur. 25.000 Menschen nahmen an der Zeremonie teil. Die immer heftiger werdenden Proteste der Katholiken gegen den Standort des Denkmals führten Jahre später zu seiner Versetzung auf die nahegelegene Place Nadar. Als 1941 die Vichy-Regierung das Denkmal einschmelzen ließ, weil die Armee Metall brauchte, protestierten die “Laizisten”, da christliche Statuen von einem ähnlichen Schicksal verschont blieben. Im März 2001 wurde ein neues Denkmal errichtet, es trug die Inschrift: “Dem Chevalier de la Barre, hingerichtet im Alter von 19 Jahren am 1. Juli 1766, weil er eine Prozession nicht gegrüßt hatte.” Zur Einweihung erschienen der Innenminister und Bertrand Delanoë, der neu gewählte sozialistische Bürgermeister von Paris.

Die Erinnerung an den Prozess von 1766 wird von der “Association Le Chevalier de La Barre” lebendig gehalten, deren Ziel “die Förderung der Laizität, der Gewissens- und der Meinungsfreiheit” ist. Auf ihrer Website www.laicite1905.com kann man sich über Treffen informieren, die regelmäßig unter dem Namen “Café de la Laicité” veranstaltet werden – und über das “Fest der Laizität”, das einmal im Jahr stattfindet. Im Juni 2013 wurde eine dem Andenken des Chevaliers gewidmete Stele in Abbeville mit Graffiti des “Institut Civitas” beschmiert, einer Vereinigung katholischer Integristen, die sich in ganz Europa die “Wiederherstellung des sozialen Königreichs unseres Herrn Jesus Christus” zum Ziel gesetzt haben. In Dutzenden französischen Städten und Gemeinden sind Straßen und Plätze nach de la Barre benannt. Die Katholiken ärgert besonders, dass die Kirche Sacre Cœur die Adresse “35, Rue du Chevalier de la Barre” trägt. Regelmäßige Eingaben an den Pariser Magistrat, den Straßennamen zu ändern, sind bis heute ohne Erfolg geblieben.

Das Christentum hat die Laizität – die Trennung von Staat und Kirche – erst möglich gemacht. Ausgangspunkt ist die Stelle im Matthäus-Evangelium (22:21), an der die Pharisäer Jesus fragen, wie sie es mit dem Zinsgroschen halten sollen. Jesus zeigt auf eine Münze mit dem Abbild des Kaisers: “So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.” In der Folge kam es zu einer “Sakralisierung” des Staates, der eine “Entweltlichung” der Kirche entsprach. In der Gesetzgebung von 1905 taucht im Übrigen das Wort “laicité” nicht auf. Dies geschieht erst in der Verfassung von 1946, in der Frankreich als eine “unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik” beschrieben wird.

Die Französische Revolution hob die Privilegien des Klerus auf und erklärt seine Mitglieder zu einfachen Bürgern, die wie alle anderen Bürger dem weltlichen Gesetz unterworfen waren. Einen Bereich gab es, in dem der Einfluss der Kirche besonders rigoros beschnitten wurde: die Erziehung der Kinder. In ihr durfte kein “religiöser Kult” eine Rolle spielen. Lange Zeit wurde die Laizität zwar proklamiert, aber nicht wirklich realisiert. Die Widerstände gegen sie blieben nicht nur im Klerus, sondern auch in der ländlichen Bevölkerung wirksam. Bald sprach man von den “zwei Frankreichs”, die im Konflikt miteinander lagen: Das eine verstand sich als “die älteste Tochter der Kirche”, das andere als die Erbin der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1793. In jeder Gemeinde verkörperte sich der Konflikt in zwei Personen: dem Pfarrer und dem Lehrer.

Ende des 19. Jahrhunderts wurden Anzeichen einer Aussöhnung zwischen den Katholiken und dem Staat sichtbar. Obwohl nach wie vor antikatholische Gesetze erlassen wurden, rief Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika “Immortale Dei” von 1885 die Katholiken zur Versöhnung (“ralliement”) mit dem Staat auf. Dann aber kam es zur Dreyfusaffäre, und die Fronten zwischen Katholizismus und Republik verhärteten sich erneut. In einem seiner letzten Romane mit dem Titel “Verité” attackierte Emile Zola den katholischen Klerus, weil dieser versuche, die Franzosen mithilfe einer Religion zu manipulieren. Die weitverbreitete antiklerikale Stimmung fand ihren Ausdruck im Gesetz von 1905, das die Trennung von Kirche und Staat festschrieb und der obligatorischen, kostenlosen und laizistischen Volksschule die exklusive Rolle in der Heranbildung der Franzosen zu loyalen Staatsbürgern zuschrieb.

Islam galt als weniger “klerikal”

In Frankreich provoziert die Schule bis heute den Streit zwischen religiösen und laizistischen Überzeugungen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob der Staat Privatschulen finanziell unterstützen darf. An Heftigkeit aber lassen sich diese Auseinandersetzungen nicht mit den Konflikten vergleichen, die sich aus der wachsenden Präsenz einer anderen Religion entwickelt haben: dem Islam. Im Rückblick ist es daher umso überraschender, dass sich Anfang des 19. Jahrhunderts bei radikalen Verfechtern der Trennung von Kirche und Staat die Abwehr des Katholizismus mit Sympathiebekundungen für den Islam verband. Der Islam galt als weniger “klerikal” als der Katholizismus, im Artikel “Mahométisme” des großen Larousse-Wörterbuchs wurden die zivilisierende Wirkung des Islam und seine Toleranz gegenüber Minderheiten hervorgehoben: “Der Islamismus hat weniger Blut vergossen als das Christentum.”

Heute sehen die energischen Verfechter der Laizität ihren Hauptgegner im Islam. Besonders militant verhält sich dabei die der rechtsradikalen Front National nahestehende Bewegung “Riposte laïque” (“Laizistische Replik”), die zum “Europäischen Widerstand gegen die Islamisierung unserer Länder” aufruft. Sie wirft der französischen Regierung, die nur als “Regime” bezeichnet wird, Feigheit vor den Islamisten vor und richtet den gleichen Vorwurf gegen die Europäische Kommission. “Riposte laïque” verlangt das Verbot von Schleier und Halal und die Schließung aller Moscheen.

Bejubelt wird Jean-Marie Le Pen, der nach der Ermordung der Karikaturisten von Charlie Hebdo erklärte: “Je suis Charles Martel” – und damit auf Karl Martell anspielte, den Großvater Karls des Großen, der 732 in der Schlacht von Tours und Poitiers die nach Gallien vorgedrungenen Muslime besiegte und damit, so “Riposte laïque”, die drohende Islamisierung des Abendlandes verhinderte. Angela Merkel wird attackiert, weil sie versuche, in Deutschland Pegida zu zerstören. Mit Pegida fühlt sich “Riposte laïque” eng verbunden, Pegida-Mitglieder werden zu Meetings nach Frankreich eingeladen, umgekehrt sind französische militante Laizisten bei Pegida-Märschen in Deutschland aufgetreten (“Pascal, Pierre et Christine très applaudis à Düsseldorf”).

Als die französische Regierung einen Demonstrationszug verbot, der unter dem Slogan “Islamisten raus aus Frankreich!” durch die Straßen von Paris marschieren wollte, hieß es im Blog von “Riposte laïque”, jetzt sei das “Houellebecq-Szenario” bereits Wirklichkeit geworden: Eine Allianz aus Islamisten, Konservativen, Sozialisten, radikalen Linken und Europäischer Union stelle sich dem Front National und den wahren Laizisten entgegen. Houellebecqs Roman “Unterwerfung” ist eine Dystopie, die im Jahre 2022 spielt – und zugleich eine Beschreibung der aktuellen Probleme der Laizität.

Laizität als Bollwerk gegen den Islamismus

Der Romanheld Mohammed Ben Abbes, Absolvent der École Polytechnique und Führer der Muslimbruderschaft, der sich um das Präsidentenamt bewirbt und schließlich gewählt werden wird, stellt die Schulpolitik in den Mittelpunkt seines Programms. In der Wirtschafts-, Steuer- und Sicherheitspolitik ist er zu Kompromissen bereit – in der Schulpolitik ist er kompromisslos: “Nach dem Konzept der Bruderschaft muss jedes französische Kind vom Anfang bis Ende seiner Schulzeit in den Genuss einer islamischen Erziehung kommen.” Ziel ist die Respiritualisierung des republikanischen Schulunterrichts. Ben Abbes fordert im Roman seine einzig verbliebene Konkurrentin im Kampf um die Präsidentschaft, Marine Le Pen, zu einer Debatte über die Laizität auf – und kann sicher sein, dass er diese Debatte gewinnen wird.

Nicht ausgeschlossen, dass er sie bereits heute gewinnen könnte. Denn mehr und mehr Franzosen fragen sich, warum die republikanische, laizistische Schule nicht in der Lage ist, die Radikalisierung junger Franzosen zu verhindern, die sich in Syrien dem Islamischen Staat anschließen und nach Frankreich zurückkehren, um hier Anschläge zu verüben. Trägt dafür auch eine Schule Verantwortung, die Fragen der Religion aus ihrem Curriculum verbannt und spirituelle Bedürfnisse der Schüler ignoriert? Vielleicht wird die Laizität, die als Bollwerk gegen den Islamismus gilt, aus Furcht vor dem Islam noch vor 2022 an Bedeutung verlieren. Vielleicht werden neben dem Lehrer wieder der Pfarrer und der Rabbi wichtiger werden – und auch der Imam.

Quelle: http://www.welt.de/kultur/article136839959/Der-Islam-bedroht-den-europaeischen-Laizismus.html