2020

Dr. Nils Minkmar - Laudatio auf Philippe Lançon

Ein Mann möchte nach beendetem Kriegseinsatz die Heimreise antreten und braucht statt weniger Wochen zehn Jahre. Das ist die Odyssee.
Ein Mann besucht seinen Cousin in einem Sanatorium in der Schweiz und obwohl er „auf zwei Wochen fährt“ , bleibt er sieben Jahre. Das ist der Zauberberg.
Ein Mann fährt mit dem Rad zur Arbeit und kommt lange nicht zurück, nur das Fahrrad bleibt heil und wartet viele Wochen, es wird auch nicht gestohlen. Das ist die Geschichte von Philippe Lançon und wenn er sie in seinem Buch „Der Fetzen“ erzählt, wird daraus mehr als ein Zeugenbericht, es wird Literatur.
Die macht bekanntlich im Kopf ihrer Leserinnen und Leser was sie möchte. Heute ist es uns unmöglich, Lançons Beschreibungen des Lebens im Krankenhaus große Erzählung über die moderne Medizin, über Verwundung und Therapie zu lesen, ohne an die Pandemie zu denken, die Europa fest im Griff hat. Und tatsächlich trug er auch eine Maske, um seinen chirurgisch restaurierten Kiefer zu schützen, als niemand eine Maske trug.
Ja, der „Fetzen“ liest sich heute wie ein Buch mit unguten Vorahnungen. Obwohl sein zeitlicher und historischer Rahmen bekannt sind - es geht um das Attentat auf die Redaktionsräume der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ am 7.Januar 2015 und seine Heilung von den Folgen – behandelt es universelle Themen: Was hält die Gesellschaft zusammen? Wie eigne ich mir mein Leben an? Wo sind die Quellen der Kraft, wenn Du dich am Ende fühlst.
„Der Fetzen“ ist eine meisterlich geschriebene Erzählung von dem, was Menschlichkeit vermag, von den Leistungen einer Klinik, einer Familie und einer ganzen Gesellschaft, die es schließlich vermocht haben, diesen versehrten Menschen zu heilen.
„Sie kennen doch“, fragte mich Philippe Lançon als ich ihn einmal in Paris beuchte, „die Kreise, die sich an der das Wasseroberfläche bilden, wenn man einen Stein hineinwirft? Also, der Stein, das war ich. Und dann waren um mich meine Familie, die Ärzte und Pflegenden, die Freunde und schließlich die französische Gesellschaft.“ Das Buch ist, bei allen Momenten der Verzweiflung, ein Lob der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und des Kompromisses. Die Salpétrière, das Krankenhaus, in dem er Monate verbringt, wird in allen Facetten, auch ihrer Dysfunktionalität, beschrieben, in dem, was Angst macht oder wo er sich allein gelassen fühlt – aber vor allem als ein Ort praktizierter Humanität und der Suche nach Exzellenz in der Hilfe. Man kann lesen und lesen , hier ist keine Spur vom Verdruss am medizinischen Fortschritt, findet sich keine Klage über den Zustand der Gesellschaft und kein Hadern mit dem Schicksal – alles, was vom Tod weg führt, von der um es mit Carolin Emcke zu sagen „stummen Gewalt“ des Terrors, weist in die richtige Richtung.
Seine Chirurgin, die im Buch nur mit ihrem Vornamen Chloé vorkommt, ist eine der Protagonistinnen des Buchs. Seit dem Erfolg der französischen Originalausgabe ist sie auch zu einer gewissen Berühmtheit gekommen, hat unterdessen die Leitung der Abteilung Gesichtschirurgie in der Salpétrière übernommen. Im Buch erscheint sie differenziert, als eine Chirurgin, die seinen schweren Fall meistert und die vielen, unabsehbaren Folgeprobleme in den Griff bekommt, aber der es auch darum gehen muss, die Distanz zum Patienten zu wahren. Sie wird bewundernd als Vertreterin des klaren Wortes beschrieben. Als er sie zu Anfang fragt, ob sie nicht ein altes Foto von ihm möchte, um ihn ähnlich wieder hin zu kriegen antwortet sie, das sei nicht nötig, denn er werde nicht aussehen wie früher.
Lançon weist auch der Literatur und der Musik einen zentralen Stellenwert zu – auf dem Weg in den Operationssaal begleitet ihn entweder ein Buch von Proust oder die Briefe an Milena von Franz Kafka. Er nennt diese und andere Schriftsteller seine Aufklärer, die ihm den Weg erhellt haben. Auch der erste Teil des „Zauberbergs“ von Thomas Mann zählt dazu.
Lançon erspart dem Leser kein peinigendes Detail seiner Geschichte. Ein Teil der Haut, mit der eine Wange gebildet wurde, stammt von seinem Oberschenkel. Folglich wachsen im Mundraum kleine, feste Haare, die extrem stören und nur mühsam zu entfernen sind.
„Mein Buch“, erklärte mir Lançon,“empfiehlt eine Tugend, die gar nicht mehr in die Zeit passt, das ist die Geduld!“
Es gab für ihn keine schnelle und vollständige Genesung, kein noch so modernes verfahren, das sein Gesicht wie mit der Bildbearbeitungssoftware Photoshop hergezaubert hätte. Aber auch die Wochen und Monate im Zweifel, in Schmerzen und Ängsten sind das Leben. Prozesse zu beschleunigen ist keine gute Idee – der Versuch, in der Klinik mit seiner Freundin zu schlafen, während er noch an diversen Schläuchen hängt, fällt, wenn man der Beschreibung im Buch traut, unter diese Kategorie. Der Körper heilt langsam, aber in diesem Tempo liegt etwas Widerständiges, etwas Autonomes.
„Der Fetzen“ ist auch ein Buch über die französische Gesellschaft. Die Überlebenden von „Charlie“ stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. In der Klinik taucht ein Arzt auf, der die Verbindung zum damaligen Präsidenten François Hollande hält. Wenn etwa ein längerer Reha-Aufenthalt in der Veteranenklinik hinter dem Invalidendom nötig wird, wird der Lançon auch gewährt. Ansonsten aber bemühen sich Chloé und ihre Kollegen, ihn zu behandeln wie alle anderen Patienten auch, was allerdings nicht ganz einfach ist, weil er einfach viel länger dort bleibt als die anderen Patienten. Nach und nach wird er zum Maskottchen der Station, das einmal auch vom Staatspräsidenten besucht wird.
Nicht einmal aber wird etwas über die Kosten der ganzen Sache verloren. In einem System wie dem der Vereinigten Staaten wären Lançon und seine Familie ruiniert oder auf Spender angewiesen gewesen, hier spielt das Thema nicht die geringste Rolle.
Lançon ist noch da, der Terrorismus auch, in Frankreich schlug er erneut zu in diesem Jahr. Das Buch beschäftigt sich nicht mit den Mördern, mit ihrer Geschichte, es macht stark, was gegen den Terror, gegen politische Gewalt überhauptsteht, nämlich Kunst und Kultur, Freundschaft und Liebe und so etwas prosaisches wie der Sozialstaat.
Je älter ich werde, desto mehr fühle ich mich als Sozialdemokrat sagt mir Lançon damals. Es gebe keine perfekte irdische Gerechtigkeit, sagt er. Und das wir lernen müssen, die Unvollkommenheit der Gesellschaft anzunehmen.
Wir trafen uns in einem seltsamen Café, eine Art urbaner Höhle außerhalb von Zeit und Raum. Der Mann an der Theke wünschte mir beim Zahlen einen guten Abend, obwohl es erst drei Uhr nachmittags war. Im Sinn blieb mir ein Satz, den Lançon im Gespräch gesagt hatte: „La vie est étrange.“ Das Leben ist seltsam. Diese Erkenntnis, die jede und jeden berührt, ist uns allen gemeinsam und stiftet, wenn wir sie teilen, eine neue Verbindung, die uns gut durch das Leben kommen lässt.
Und es bleibt das schwere Buch, über fünfhundert Seiten lang, von denen keine zu viel ist, denn die passende, die überwältigend überzeugende Antwort auf schnelle, stumme Gewalt ist eine ausführliche Geschichte von Zusammenhalt, Genesung und Glück.
„Der Fetzen“ zeigt uns, was Europa im besten Falle sein kann, es inspiriert und stärkt, daher ist es eine Ehre und eine Freude, heute Philippe Lançon mit dem Prix de l’Académie de Berlin auszuzeichnen.